Dr. Stephan G. Humer
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Kategorie: Bildung, Forschung & Lehre
Internetsoziologe & Privatdozent an der Hochschule Fresenius

Dr. Stephan G. Humer

Ich habe an der Freien Universität Berlin studiert, und zwar Soziologie sowie Psychologie und Publizistik- und Kommunikationswissenschaften, dann folgte nach dem Diplom eine Promotion in Soziologie. Tätig war ich vor allem an der Universität der Künste Berlin, zusätzlich – mit der typischen befristeten Halbe-Stellen-Situation – unter anderem auch an der TU Berlin und der Fachhochschule Potsdam, bin aber nun seit 2016 dauerhaft als Dozent an der privaten Hochschule Fresenius.

Gastdozenturen gab es unter anderem an der Bucerius Law School, der TH Brandenburg und für etliche Jahre auch an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Glücklicherweise ergab sich fast immer eine ausreichend große Schnittmenge mit „meinem“ Thema Internetsoziologie, so daß die Gastdozenturen und Anstellungen stets eine gewisse inhaltliche Kontinuität erlaubten. Freilich mal mehr, mal weniger – unterm Strich konnte ich jedoch kontinuierlich an der „Idee Internetsoziologie“ arbeiten. 

Was verstehen Sie unter dem Begriff "Internetsoziologie"?

Was ich darunter konkret verstehe, steht unter anderem in meinem Internetsoziologie-Wiki und in der Folge nun hier: Internetsoziologie ist ein im Kontext meiner Tätigkeiten an der Universität der Künste gewachsener (und hier erstmals 2012 institutionalisierter) Arbeitsbereich sowie ein meine Arbeitsweise beschreibender Begriff, den ich erstmals 1999 mit der Initialisierung meines Webangebotes im Rahmen meines Studiums an der Freien Universität Berlin öffentlich gemacht habe.

Ich betrachte Internetsoziologie als den Arbeitsbereich, der sich soziologisch mit der Digitalisierung unserer Gesellschaft auseinandersetzt. Und in den Worten "Digitalisierung" und "Gesellschaft" liegt auch schon die logische Schlußfolgerung "Internetsoziologie". Weniger geht es hier um die (technischen) Möglichkeiten, die das Internet den Soziologinnen und Soziologen gebracht hat, z.B. ganz neue bzw. andere Formen der (Online-)Markt- und Meinungsforschung oder die Datenextraktion aus sozialen Netzwerken wie Facebook zwecks Analyse und visueller Aufbereitung. Vorrangig geht es um die inhaltlichen Fragen und deren Beantwortung - auch wenn Methodenlehre natürlich ein wichtiger Teil ist. 

Es wurde noch in den 1990er Jahren gefragt, inwiefern sich eine Soziologie des Internets überhaupt behaupten oder ausgestalten könnte. Ich denke, daß diese Frage spätestens seit den unzweideutigen Erfolgen von Big Data, aber eigentlich auch schon seit der allgemeinen Massenausbreitung des Internets beantwortet werden kann: mithilfe der aktuellen digitalen Entwicklungen kann man Aussagen über die gesamte (nichtdigitale wie digitale) Gesellschaft treffen. Spätestens jetzt reden wir wohl von Internetsoziologie, da die Verwebung von Internet und Gesellschaft in jeder Hinsicht und aus jeder Richtung klar erkennbar ist.

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Wie sieht ein typischer Arbeitstag für Sie aus?

Auch wenn es vielleicht überraschend, ein wenig übertrieben oder gar klischeehaft-unglaubwürdig klingt, aber: es gibt keinen typischen Arbeitstag. Das ist gleichermaßen gut und schlecht.

Gut deshalb, weil man fast täglich etwas Neues macht. Mein Forschungsfeld, das Internet, ist eines der wenigen in unserer Gegenwart, welches historisch gesehen wirklich neu ist. Ich bin offenbar der erste Internetsoziologe, zumindest in Deutschland, und habe das Feld somit ein wenig mitgestalten können. Das ist faszinierend, historisch unglaublich spannend, hoffentlich auch ein wenig relevant. 

Das Schlechte daran ist, daß so extremes Explorieren immer enorme Unsicherheiten zur Folge hat. Man reißt ein Thema an, findet eine erste Antwort und eilt dann gezwungenermaßen direkt zum nächsten Thema, da die Lösungsbedarfe und Antwortinteressen ebenfalls extrem sind. Die Arbeit an der „Idee Internetsoziologie“ zog sich deshalb sehr in die Länge. Aber spätestens seit ich ein ganzes Team um mich habe, hat sich das deutlich gebessert und wir können die Idee gemeinsam und viel effektiver vorantreiben.

Was schätzen Sie an Ihrer Arbeit besonders?

An der Wissenschaft schätze ich die Forschung am meisten, weil sie der Ursprung von allem ist. Am besten fühle ich mich freilich, wenn ich Forschung und Lehre miteinander verweben kann. Denn niemand ist kreativer als wissbegierige und weltoffene junge Menschen – und genau die unterrichte ich ja. Im Idealfall begeistert und motiviert man sich gegenseitig und lernt voneinander. Dann entsteht forschendes Lehren und Lernen - der Idealfall. Diesen Idealfall strebe ich in jedem einzelnen Seminar an. Erfreulich oft funktioniert das auch.

War es schwierig, Ihre Kolleg*innen schon vor mehr als 10 Jahren von der Bedeutung des Internets zu überzeugen?

Ja, das war ein enormes Problem und letztlich auch der Grund, warum ich ausgerechnet an einer Kunstuniversität gelandet bin: mein Mentor Joachim Sauter war als Digitaldesign-Professor seinerzeit der Einzige, der meine Idee verstand und das Potential dahinter entdeckte. Zu ihm kam ich über die wunderbare Soziologieprofessorin Gerburg Treusch-Dieter, die mich zwar auch nach Kräften förderte, inspirierte und motivierte, doch gerade in der Zusammenarbeit mit Joachim einen deutlichen Gewinn für meine weitere Entwicklung sah, da Joachim deutlich tiefergehende Technikkenntnisse besitzt und deshalb mit mir zusammen noch tiefer in die digitale Detailebene gehen konnte.

Von ihr sollte also, so der Plan, der soziologische Einfluß kommen und von Joachim der digitale. Leider verstarb Gerburg viel zu früh, so daß sämtliche Pläne über den Haufen geworfen wurden und ich komplett umdenken mußte. Doch inzwischen kann ich wieder mehr und mehr an diese Ursprungsideen anknüpfen und ich denke, daß gerade meine Mitarbeit in der Digitalen Klasse letztendlich extrem hilfreich war. Es war ein außergewöhnlicher Weg, kein Zweifel, aber rückblickend doch ein sehr guter. Und er findet immer wieder großartige Unterstützer, wie zuletzt den Präsidenten der Hochschule Fresenius, Tobias Engelsleben, der meinen aktuellen Forschungs- und Arbeitsbereich Internetsoziologie ohne Wenn und Aber an unserer Hochschule ermöglichte.

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Wie hat das Internet Ihre Arbeit als Wissenschaftler verändert?

Ohne das Internet gäbe es meinen Job nicht, denn das Internet ist mein Job. Ohne Internet wäre ich somit arbeitslos.

Aber im Ernst: die Digitalisierung bringt meiner Einschätzung nach weit mehr Vor- als Nachteile. Es sind sicherlich zu viele Vorteile, um sie alle hier aufzuzählen oder auch nur befriedigend zu priorisieren, zumal viele – wenn nicht gar alle - kontextgebunden sind und nicht immer für sich stehend nur positiv sind. So kann die starke Vernetzung von Menschen einerseits ja sehr gut (Wissenschaftskommunikation, Verbindung von geographisch distanten, aber emotional hochengagierten Liebenden, …), andererseits natürlich auch sehr schlecht (Beleidigungen, Bedrohungen, Verleumdungen, …) sein. Nachteile entstehen meiner Beobachtung nach aber oftmals dann, wenn die entsprechenden digitalen Kompetenzen fehlen. Das Internet ist nicht per se böse.

Reagiert die Soziologie in Deutschland zu langsam auf digitale Trends (z.B. Open Access)?

Die Soziologie ist in Deutschland leider nicht besonders proaktiv, was Digitalisierung angeht. Das ist nicht nur ein inhaltliches, sondern auch ein strukturelles Problem. Open Access ist also ein Teil eines viel größeren Phänomens. Insgesamt wird Digitalisierung hierzulande zu stark technisch betrachtet – die soziale Komponente fällt dann hinten runter. Das ist aus ganzheitlicher Betrachtung nicht nur schade, sondern geradezu eine Katastrophe, denn im Sozialen liegt das größte Gestaltungspotenzial. Das Internet ist erst einmal nur tote Technik, die nur wir Menschen mit Leben füllen.

Die Unis sollten dieser Tatsache ebenfalls viel stärker folgen und so weit gehen in Sachen Digitalisierung wie sinnvoll möglich. Bücher sind beispielsweise Objekte von gestern: Scans, PDFs, digitale Arbeitsplätze sind die Gegenwart. Wir brauchen demzufolge keine neuen Bibliotheken mit Regalkilometern voller unberührter Bücher, sondern digitale Services, digitale Angebote, ja: digitales Denken. Je besser das Digitale gefördert wird, desto besser für uns alle.

Welche digitalen Kompetenzen sollten Studierende heute für das Berufsleben mitbringen?

Sie müssen eine ganzheitliche digitale Kompetenz entwickeln: von Technikkenntnissen (CPU, RAM, ROM, etc.) über Netzwerkkenntnisse (HTML/XML, TCP/IP, UMTS/4G, etc.) bis zu digitalkulturellem Wissen (Nerd-, Hacker-, Youtuber-Szene, etc.). Nur so werden sie diese enorme Revolution meistern können.

Welchen Rat würden Sie Studierenden geben, die sich für die Internetsoziologie interessieren? 

Haltet riesige Mengen an Technikkenntnissen parat, dann könnt ihr im Zweifel immer im IT-Bereich arbeiten, denn Deutschland interessiert sich nicht besonders für die gesellschaftlichen Dimensionen der Digitalisierung. Wenn es dieses Thema jedoch unbedingt sein soll: geht lieber ins Ausland, konkret: Amerika und Asien. Und haltet auch da Kontakt in die Wirtschaft. IT wird auch in 30 Jahren noch eine enorme Rolle spielen – die digitale Revolution hat gerade erst begonnen!

Vielen Dank für das Gespräch!

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Veröffentlicht am: 09. Juni 2017